Der Bildverlust

16.03.2021

Und sie, die Betrachterin, war mit im Bild. Sie entzifferte.

Von ihren Nachbarn dagegen gab es nichts zu entziffern? Hatte sie überhaupt Nachbarn? Ja, aber deren Häuser waren derart entfernt von dem ihren, ursprünglichen eine Kutschenstation samt Herberge, später Mittelpunkt einer der seinerzeit in der Flußhanglange häufigen Obstplantagen, daß von den Bewohnern höchst ab und zu ein Umriß hinter Bäumen wahrnehmbar wurde, jenseits der Stadtausfahrtsstraße. Sie hatte mit der Zeit ihre Arbeit mehr und mehr bei sich zuhause getan. Nur: von den Nachbarn zeigte sich ihr da eher noch weniger als je zuvor. Und das lag nicht an ihr. Sie bewohnte nicht nur das eigene Haus und den Garten, sondern auch die nähere Umgebung. Vor allem des Nachts streunte sie durch den dicht besiedelten Stadtrand, durchstöberte sie die Hügelwälder. Und zunehmend zog es sie dorthin, wo die Menschen waren. Bloß bekam sie die, und nicht allein in der Nachtdunkelheit, kaum je zu Gesicht. Obwohl sie, ohne besonderes Verkleidetsein, sich verkleiden konnte bis zur Unscheinbarkeit oder gar Unsichtbarkeit, wurde sie von ihrer Bevölkerung gemieden? Nein, diese schloß sich von vornherein, auch untereinander, ab. Jedes Haus bildete einen vielfach abgesperrten und abgeschirmten Bezirk. Die Neuhinzugezogenen (es kamen immer mehr), anfangs noch unbekümmert laut, bei offenen Fenstern — endlich waren sie weg von den Mietwohnungen, zwischen eigenen Wänden —, dämpften bald sowohl Stimmen als auch auch ihre Schallmaschinen, und inzwischen ließ kaum jemand weit und breit noch einen Mucks hören. Einzig der Stadtrandidiot, anders als einst der Dorftrottel frech und geradeaus, schrie, sang und pfiff auf den nicht bloß nachts fast menschenleeren Straßen.

Erst in den letzten Jahren war die Gegend so still geworden (bis auf die eine Stunde am Arbeitsmorgen und die eine vor Feierabend). Manchmal herrschte dann so etwas wie eine Vor- und Nachkriegsstille. In der Regel aber strahlte die schweigsame, dabei gut ausgeleuchtete Ränderlandschaft einen atmenden Frieden aus. Vor allem war das dem einen und anderen der alten Bewohner zu verdanken. Oft waren das Handwerker, und oft übten die ihren Beruf, obwohl längst zum Ruhestand berechtigt, weiter aus, ein siebzigjähriger Schuster, ein fünfundsiebzigjähriger Maurer, ein achtzigjähriger Gärtner. Wohl annoncierten sich in allen Sparten Jüngere und Modernere. Da diese aber fast immer ganz woanders ihren Firmensitz hatten, werkten die Alten hier, besonders bei kleineren Sachen, fort und fort. Sie machten ihre Sache auch besser, und es war auf sie eher Verlaß — nicht etwa, weil sie die Älteren und Erfahreneren waren, sondern weil sie ihren Sitz und auch ihr Wohnhaus an Ort und Stelle hatten, eine Straße oder eine Ecke weg von der jeweiligen Arbeit oder dem Auftraggeber; sie konnten sich Pfusch und Halbheiten nicht erlauben.

Ob Handwerker* oder Sonstige: diese Alten, auch wenn sie nicht den Mund auftaten, waren wandelnde oder auch schon halb in den Flechten der Obstbäume, die Schuhlederteile und lehmgelben Schaufeln übergegangene Abenteuergeschichten. Sowie sie einmal ins Reden kamen, war auch tatsächlich die ganze Welt der Fall. Schon recht, daß man die Traum- und Geisteserzählungen in Tibet oder die Wüstenwanderlieder der Tuareg sammelte: aber warum hat niemand ein Ohr für die Epen und Sprechgesänge dieser alteingesessenen oder einst mit ihren Eltern aus anderen Ländern hierhergewanderten oder -geflüchteten Stadtrandleute? Kamera, Film, Video, Mikrophone auch für sie. Denn sie wurden zusehends weniger: die Hand, die dort in der letzten Woche die Läden schloß, wird diese endgültig geschlossen haben; veräumte Sage, versäumte Klgae, versäumtes Liebeslied; selbst die versäumte kleine Andeutung — was für ein Versäumnis.

Seite 35-37
PETER HANDKE
Der Bildverlust
Roman, Suhrkamp 2002



"Handke geht es in seinen Erzählungen deshalb nicht um eine realistische Darstellung von Beziehungsproblemen, sondern darum, von der als "Möglichlichkeitsfort menschlichens Lebens und Zusammenlebens" (Gestern unterwegs, 432) zu erzählen. Wenngleich seine Texte sinnliche und körperliche Aspekte keineswegs ausblenden, so betreiben sie doch vor allem eine mystifizierende Idealisierung der Liebe. Zugleich bindet Handke die Thematik in sprachkritische Überlegungen ein, wenn er im Bildverlust (2002) die Bankfrau über die Inflation des Liebesbegriffs polemisieren lässt, welcher "ständig durch die Mikrophone und Lautsprecher" von Bahnhöfen wie Sportstadien komme. Die plakative Zivilisationskritik, die für Handkes Spätwerk durchaus kennzeichnend ist, zielt auf die zynische Widersprüchlichkeit der postmodernen Meidengesellschaft, gebündelt in dem Bild von "Schwerbewaffnete(n)", die Tag und Nacht zu zu den Klängen von "Love me Tender" die Eingänge der U-Bahnhöfen und Vorortsstationen patrouillieren. In der Gegendwart ist die Liebe zur aufdringlichen Botschaft "auf jedem zweiten Wahl- und Reklameplakat" verkommen. (Bildverlust, 105f)."
Thorsten Carstensen: Die Geschichte zwischen Mann und Frau. Peter Handke und die Liebe., 15.2.2016  Handkeonline 



*Ein nachgezeichnetes Bild der Welt um 1910 findet sich in "Griffen, wie es früher einmal war" ein Streifzug durch das Griffener Alltagsleben am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aufgezeichnet von Valentin Hauser