
Balkonien 2025
Am Neujahrstag eine Morgenwanderung entlang der Moldau. Leere Straßen, die Müllabfuhr arbeitet, sammelt die Rückstände von Krachern, Feuerwerkskörper und Flaschen von den Straßenrändern, den Parkflächen ein.
Bevor die Touristen die Innenstadt bevölkern mit der 22er Straßenbahn zurück in die Gartenstadt. Linsensuppe die erste Mahlzeit im neuen Jahr. Vorbei am Haus, einst war es von Privatpersonen bewohnt. Jetzt ist in den drei Etagen ein Bestattungsinstitut eingezogen, in der letzten Etage wohnt ein betagter Freund. Wünsche ihm und allen ein gesundes 2025. Achtet auf Euch und Eure Umwelt. Abends auf dem Balkon der Prager Gartenstadt ein rot gefärbter Abendhimmel.

Jänner
Ein nebliger, grauer Jänner in Prag. Müde Tage mit hohem Pulsschlag, aufgeregter Herzschlag – verschüttete Sprachbilder ob der politischen Gegebenheiten. Vor der monatlichen Fahrt nach Zeltweg die Nachricht, dass Ingrid verstorben ist. Manche Türen schließen leise, manche schlagen laut zu. In die Stille hineinhören. Die Fortsetzung des Balkonien-Projekts 2025 wird auf Ende März verschoben. Keine Samen werden gezogen, wenn überhaupt, wird es mit jenen Pflanzen weitergehen, die sich weitgehend selbst erhalten, mit wenig Wasser auskommen – unabhängig von helfenden Händen – das erleichtert das Weggehen.

Februar
In der brüchigen Weltenlage (Diktatoren wie Trump und Putin schreiben die Weltordnung neu) viel in Zügen gesessen, Freundschaften durch Wiedersehen aufgefrischt. Frostige Tage in der Prager Gartenstadt, Klagenfurt, Bösenort, Graz und Wien. Die Lebensbestätigung im österreichischen Konsulat in Prag abstempeln lassen. Die Trennung von neuwertigen Gegenständen für eine Rot-Kreuz-Sammlung. Den Wien Aufenthalt durch den Unfall der Mutter vorzeitig beendet. Seit 23.2. (in Prag starb an diesem Tag Michael March) in Zeltweg. Während des Krankenhausaufenthalts wurde Mutters Wohnung einem Frühjahrsputz unterzogen, ihr Balkon entrümpelt und gereinigt: Dort hatte sich eine Maus eingenistet; die Maus flüchtete ins Vogelfutterhaus und von dort über das Flachdach in die Wiese.

März
Ein von Wetterumschwüngen, politischen Schwankungen und den Stimmungen der Mutter-Patientin geprägter Monat in Zeltweg. Ich lerne, ihre Stimmungen wie das Wetter anzunehmen, nicht mehr wünschen, »wäre es doch anders.«
Die Pflegeeinheiten für die Patientin werden zur Gewohnheit. Der erkrankte Nachbar wird mitgepflegt. Einkäufe, Putzarbeiten und was sonst in einem Haushalt anfällt, wird erledigt, inklusive des Kochens und Zubereitens von Mahlzeiten. Während der Morgenwanderungen entlang der Mur versuche ich den Stress ab-, die Energie aufzubauen. Selbstdisziplin ist wirksamer als Motivation.
Aus Prag höre ich, dass die Birke und die Weide austreiben, es den zwei Rosenstöcken, dem Rhododendren und Oleander gut geht. Die Geranien sind noch im Stiegenhaus. Bücher warten auf mich.
April
Nach mehr als 40 Tagen Pflege der 86-jährigen Mutter in Zeltweg geht es am 5. April per Bahn zurück in die Prager Gartenstadt. Drei Tage lang den Balkon frühjahrs fit gemacht. Die nicht winterfesten Pflanzen in die Aprilluft gestellt. Erde ausgewechselt. Gejätet.
Ein Wiedersehen mit Alena Wagnerová aus Saarbrücken, Sergij Osatschuk aus Czernowitz in Prag sowie mit tschechischen Freundinnen und Freunden. Einen Online-Kurs in Validation belegt, um die Krankheit Demenz zu verstehen.
Am 24.4. in Wien ein Treffen mit ehemaligen Arbeitskolleginnen und Kollegen, danach ging es weiter nach Zeltweg zur Mutter, die mithilfe des Nachbarn, einer Dame der Volkshilfe und zwei Freundinnen wieder ein selbstständiges Leben in der eigenen Wohnung führt.
Innerhalb eines Monats ist der Balkon ergrünt, das Taubenpaar hat das Nest vom letzten Jahr neu bestückt, die Brutzeit hat begonnen.
Die Margeriten und Bartnelken haben sich von selbst vermehrt, schaue ihnen beim Knospen zu. Einige Tage mit Sommertemperatur, danach wieder ein Temperatursturz.
Es ist zur Gewohnheit geworden: abrufbereites Sein, wenn es die Situation erfordert, den Rucksack zu packen und in den nächsten Zug zu steigen. Leben ist Wandel.

Mai, Juni
Müde vom Rucksackpacken. Die Betreuungsaufgaben für die demente Mutter. Freude? Wie sie ins Leben ziehen. Die Bedeutung von Freude – fühle ich das Wort, was löst es in mir aus? Die Erfüllung einer Erwartung, die sich nicht an der Realität orientiert? Ein Abklatsch dessen, was unter dem Titel »Glück« verkauft wird.
Freude, nicht hinterfragen – sie spüren, wo? Im Körper. Spüre ich den Körper oder nehme ich diesen wahr, wenn er schmerzt, heftig schmerzt.
Der Balken im eigenen Auge. Das linke Auge ist stark entzündet, kann es kaum öffnen. Die gekauften Bahnkarten verfallen. Besuch einer Augenärztin. Sie sticht mir das eitrige Augenlid auf, bekomme Salben und Tropfen verschrieben. Für den Fall, dass es nicht besser wird, ist ein »operativer Eingriff« angeordnet.
Mutter möchte sich von mir nicht – mehr – helfen lassen! Sie schafft alles alleine, sagt sie mit klarer Stimme. Sie dankt, dass ich, für sie die Wohnung gesucht, eingerichtet habe, sie gepflegt habe – jetzt braucht sie mich nicht mehr. »Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen. " Lesen, die Pflanzen auf dem eigenen Balkon pflegen, nicht mehr auf dem Klappbett in der Küche der Mutter schlafen. Die langen Bahnfahrten zwischen Prag und Zeltweg aufs Erste einstellen.
Die Pflanzen bejahen meine Anwesenheit, die Mutter lehnt sie ab. Ist das auf ihren Starrsinn, der mich seit meiner Kindheit begleitet, zurückzuführen oder die ärztliche Diagnose »Demenz«?
