Jindice »strohdumm«

6 Uhr morgens, Ende August, es dämmert. Am Prager Lokalbahnhof fährt der Regionalzug um 6.02 Uhr ein, der Zug ist zur Hälfte besetzt. Es ist ruhig im Abteil, der Zugbegleiter höflich. Die beiden Umstiegsbahnhöfe sind notiert, ich habe die Strecke entlang des Flusses Sázava gewählt, es gibt schnellere Verbindungen, ich habe Zeit und freue mich auf die älteren Triebwagenmodelle, wo die Fenster noch zu öffnen sind. Ich mag ihr Rattern. Manche der Haltestellen, sind Bedarfshaltestellen, an solchen gilt es, rechtzeitig den hierfür vorgesehenen Knopf zu drücken.
Am Bahnhof Sázava ein 20-minütiger Halt. Ich kaufe an einem kleinen Kiosk einen schwarzen Kaffee, türkisch. Ich rühre, bis der Sud sich senkt, suche mir einen Platz an der Sonne. Morgenkühle. Eine Gruppe von Männern sammelt sich am Bahnhof, der Triebwagen ist zehn Minuten vor Abfahrt zum Einsteigen geöffnet. Suche mir einen Fensterplatz. Langsam füllt sich der Zug. Die Menschen fahren zur Arbeit. Körbe, Rucksäcke, ein Fahrrad. Alles ohne Hektik. Auch hier gibt es einen Zugbegleiter, bei dem, wenn nötig, Fahrkarten gekauft werden können. Merke mir das für die Rückfahrt. Der Blick ist draußen bei den Feldern, die mit Maschinen bearbeitet werden. Vorbei an Gärten, Dörfern. 

In Hatě, einer Bedarfshaltestelle,  bin ich die Einzige, die aussteigt. Das neu renovierte Bahnhofsgebäude ist leer. Entlang der Gleise wird gearbeitet.  Einen der Arbeiter, der gerade eine Pause macht, frage ich nach dem Weg. Asphaltierte Landstraße mit wenig Verkehr. Eine Radfahrerin kommt mir entgegen. Auf einem Feld sitzt ein Reiher, ein Bussard zieht kreisende Spuren. Die Stare sammeln sich für die Reise in den Süden. Ein Lüfterl weht. Die großen Rollen aus Stroh* liegen wie Skulpturen in der Landschaft. Bis zum nächsten Dorf sind es drei Kilometer. Der Straße entlang stehen Äpfel-, Zwetschken- und Ringlotten-Bäume. Ich pflücke mir vier Zwetschken und eine Handvoll Ringlotten. Frühstück: vom Baum direkt in den Mund. 
Angekommen im Dorf, das einzige Restaurant hat noch geschlossen, setze ich mich auf einen Stein und trinke Wasser. Drei Pekinesen laufen mir zu, sie bellen nicht, wollen gestreichelt werden. Ein Ehepaar folgt ihnen, wir kommen ins Gespräch, sie laden mich in ihren Garten auf einen Kaffee ein. Der Garten ist groß, gepflegt, mit Blumen, Obst und Gemüse. Wir plaudern, sie erzählen von ihren Kindern, den Enkelkindern, der Arbeit, vom Leben auf dem Dorf. Sie freuen sich  »hier wohnen kaum noch Leute in unserem Alter« über den Plausch.
Als ich mich vor 12 Uhr verabschiede, packt mir die Frau zwei Äpfel, ein Jausenbrot und ein Glas selbst gemachte Marmelade ein und beauftragt den Mann »es ist wieder heiß geworden, die Landstraße ohne Schatten« mich mit dem Wagen zurück zum Bahnhof zu bringen. Ich nehme dankend an.
Das Herz freut sich. Zurück wähle ich eine andere Route und zum täglichen Abendtelefonat mit meiner Mutter bin ich wieder auf dem eigenen Balkon in der Prager Gartenstadt.

Prag, 5.9.2025, Augnerin


*Ich schrieb Heu und wurde via Bluesky aufmerksam gemacht, dass es sich um Strohballen handelt. Danke fürs Mitlesen.  Ich fand danach diesen hilfreichen Eintrag: Link von Valérie Sauter – sinnierend über das Wort »strohdumm«!

Stroh = Getreide = Gelb

Machen wir's kurz: Stroh sind die getrockneten Pflanzenreste, die nach der Ernte von Getreide (Weizen, Gerste, Dinkel, Roggen, Hafer etc.) übrigbleiben. Heute werden diese Pflanzenreste nach dem Dreschen zu Strohballen geformt und danach eingelagert.

Stroh wird in der Tierhaltung als Einstreu in Ställen oder Liegeflächen verwendet oder im Pflanzenbau als Barriere für Feuchtigkeit und Unkräuter. Es kann aber auch verfüttert werden, wenn der Anteil an der Gesamtnahrung nicht zu groß ist.