Das zweite Schwert, Eine Maigeschichte, 2020

13.03.2021

In der Folge flogen mich tagelang – welche Wissenschaft wird mir sagen, wie das kam, und warum? – die Bilder und die Namen von Orten, Städten und, vor allem, Dörfern an, in denen ich im Laufe meines Lebens gewesen war. Es handelte sich dabei keinmal um ein Erinnerungsbild. Denn es gab von jenen Orten rein gar nichts zu erinnern. Ich hatte dort gelebt. Weder waren mir über etwas, auch nur das kleinste Ding, die Augen aufgegangen, noch war mir etwas zugestoßen, und sei es eine Schwingtür, mir von hinten an die Fersen schlagend. Was mich immer stupste, waren mehr die Namen der Orte, und erst im Anhang der Namen dämmerten vage Bilder, geprägt höchstens von Steigungen und Senkungen, einer Straße, eines Feldwegs, oder ausnahmsweise von einem Steg, geländerlos, über einen Bach, einer löchrigen Tafel für Pfeilspiele in einem Wirtshauswinkel. Ja, oft hatten die Namen jener Orte, in der Regel mehrsilbig, für sich stärkere Bildkraft und Kontur als die nebulösen Bildhöfe oder -beigaben im Anhängselbereich. "Circle City, Alaska", "Mionica", "Archea Nemea", "Navalmoral de la Mata", "Brazzano di Cormòns", "Pitlochry", "Gornji Milanovac", "Hudi Log" (übersetzt "Bösenort"), "Locmariaquer": rein gar nichts war mir dort passiert, weder Gutes noch Böses, keine Liebe, keine Angst, keine Gefahr, kein Gedanke, keine Erkenntnis, geschweige denn ein Zusammenhang oder, Gott im Himmel oder wo, eine Vision. Ich hatte die Orte nur gestreift, war zufällig durchgekommen, und wenn vielleicht über Nacht geblieben, aus Ratlosigkeit (oder doch mit Bedacht, indem der Ort mir in meiner Ratlosigkeit entsprach?).
Seite 39-40


Die zwei Waggons der Tramway waren fast voll, was wohl auch daher rührte, daß man Linie wie Strecke eben erst in Betrieb genommen hatte. Die meisten der Passagiere waren Neugierige oder Vergnügungsreisende. Unterwegs zur Arbeit oder, wie ich, mit einem Vorhaben, war da keiner.

Ungewöhnlich lang war die Fahrt durch den Tunnel, und nicht bloß für eine Straßenbahn, so daß ich mich, wie sonst, wenn einmal ein Zug über die Zeit in einem Bahnhof hält, mir hier andersherum, fragte, ob es da denn mit rechten Dingen zugehe. Die Mitfahrgäste jedoch taten, als sei nichts, und so tat dann auch ich.

Zu spüren, ebenso zu hören, an dem zeitweisen Schrillen der Räder auf der einen Schiene, daß die Tunnelstrecke fast schroff bergauf führte, zugleich in wenn auch leichten Kurven; das tiefgestimmte Surren dabei weiter der Grundton. Und unversehens doch, endlich hinaus aus dem Tunnel, ans Tageslicht, und im selben Moment das Surren ein Sirren geworden, ein bei weitem leiseres als jenes, und ebenso harmonisch, eine musikalische und dazu gastfreundliche Leier.

Der Untergrundzug schließlich zur Straßenbahn geworden? Noch nicht, noch immer nicht: die Straßen, zwei, da waren sie. Aber sie vertiefen, statt neben und nächst den Schienen, weit weg davon und auf Hängen, linker- wie rechterhand an Waldsäumen entlang, während die Tram unten in einer breiten Wiesensenke fuhr, inmitten von hüfthohem Gras und mehr als mannshohem Buschwerk. Vor dem Bahnbau hatte da eine regelrechte oder eher regellose Wildnis gewuchert, in einem ziemlich lichtlosen Graben, ungefähr an der Stelle der Schienen ein in regenarmen Epochen austrocknendes Rinnsal.

Durch diese Grabenwildnis hatte ich mich seinerzeit immer wieder durchgeschlagen, mit Vergnügen, auch Abenteuerlust, über das Pflücken von Ebereschenbeeren, Vogelkirschen und wilden Johannisbeeren, all das spezielle Gaumenfreudenquellen, hinaus. Einmal war mir in der tiefen Düsternis, an einer Stelle, wo das Grabengerinne eine episodische Teichhacke bildete, eine Schlange entgegengekommen, eine tiefschwarze, so lange wie schmale, nicht kriechend oder schlängelnd, sondern hochaufgereckt, vom Kopf bis zur Körpermitte, phantastisch schnell so dahingleitend im scheinbar Weglosen und schon, weiterhin aufrecht noch im letzten Blick auf sie, elegant abgebogen und unter den dachziegelgroßen Sumpfblättern verschwunden. Kein Züngeln war dabei zu sehen gewesen, andrerseits auch keine Krone auf dem schwarzglänzenden Schlangenkopf, oder doch: in der Vorstellung, da das Tier, durch die ihm zugefallene Wildnis kurven, als die örtliche Majestät auftrat. Oft und oft habe ich in der Folge die Auftrittsstelle aufgesucht, in der Hoffnung auf wieder den Anblick: jedesmal vergebens. Dafür bekam ich eine (nicht gerade wissenschaftliche) Gewißheit: an dem Ort, an dem eine Schlange einmal so gesehen worden ist, wird sie sich nie wieder blicken lassen.

Seite 84-86,
PETER HANDKE
DAS ZWEITE SCHWERT
Eine Maigeschichte, Suhrkamp, 2020

Eine lesenswerte Rezension: "Handkes Rache" von Leopold Federmair, Begleitschreiben, 3.8.2021