Gestern unterwegs
Hochland in der Wintersonne: zur einen Hand die vereiste Wiese, zur anderen die raschelnde Eidechse
Am 6. Dezember, aus Anlaß zu seinem 80. Geburtstag ein Querverweis zu einem Beitrag von Lothar Struck "Ich, der Unsterbliche", Glanz und Elend
"Statt also die jetzt vermutlich quälenden Geburtstagstexte aus den platonischen Höhlen des Kulturjournalismus über sich ergehen zu lassen, sollte man seine Zeit besser nutzen und wenn es schon Sekundärliteratur sein soll, dann zu Federmairs Buch greifen. Es klärt nicht nur hier und dort auf, sondern könnte Lust bereiten, das ein oder andere Buch (wieder) zu lesen."
"Nach Ur kam ich nicht heute, / nach Ur komme ich morgen, / ich habe keine Sorgen! (Das ging mir in der Enklave Llivia, die Füße im Eisbach, durch den Kopf)
Gestern: der schwankende Holzboden in dem Kaufladen vor Ur; die Kirchentür dort mit den Eisenbeschlägen im Spiralmuster; dann der "internationale Bahnhof" von Entveig — die Zuglinie südwärts nach Barcelona, die nordwärts nach Paris, Spanien als Steppe unterm Bahnhof, Niemandsland; der keuchende dicke Hund, der mir den Abend lang folgte, und dem ich vom Jäger Orion erzählte, und von dem einmal sehr klar gezeichneten Hasen-Sternbild oben im Südhimmel, zu des Jägers Füßen — der Hund horchte (und jetzt auf, hinaus, ins Freie; Entveig, Cerdagne, 17. Februar 1989 (Thomas Bernhard †; ist da nicht wirklich jemand zum Betrauern?)
Des Milans im Kreisen hoch oben schon gespreizte Krallen (unterwegs zur Bergklause Belloc = "Schöner Ort")
In der Gefahr — wie jetzt beim Abstieg von der Eremitage von Belloc, durch die weglose Eis- und Schneewildnis — hört in mir das Erzählen, das Setzen des jeweils Wahrgenommenen in die Mitvergangenheit, das Sichrichten derart an "meine Imaginären", das unwillkürliche, stetige, wie unterirdische Erzählen in mir auf, und die jeweilige Gefahr, wenn ich sie überstanden habe, ist dann, anders als ich mir damals als Kind-Leser vorstellte, nichts, gar nichts zum Erzählen (Dorres, an den warmen Schwefelquellen)
Das "Chaos von Targasonne", die Granitblockwüste, mein heutiges Ziel, jetzt am Gegenhang mit dem Fastvollmond darüber: Das Chaos — das geradzu ersehnte —, du kannst es so nicht erleben, du kannst es nicht von außen betrachten, du mußt mittendrin sein
Peter Handke
Gestern unterwegs, Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990
Jung und Jung Verlag, S. 316—317