Mein Tag in einem anderen Land

24.08.2022

Die folgenden "Regeln": Möglichst keinmal bis zum Abend innezuhalten. Immer weiter so ausschreiten, wie ich mich, auf der Klippe angekommen, in Gang gesetzt hatte. Auf den öffentlichen Straßen, geteerten oder asphaltierten, mit Autoverkehr bleiben; mich fernhalten von Wanderwegen; keinerlei Land-, geschweige denn Wanderkarten zu Rat ziehen; die Natur, insbesondere die Wälder, die Bäume, tunlichst meiden oder sie allein als Hintergrund und fernen Horizont in den Augen haben; taglang so am Rand der Hauptadern unter dem freien Himmel gehen.

Ebenso sollten meine Augen taglang den Brennpunkt, den Fokus, vermeiden. Bloß keine Einzelheiten! Ebenso durfte ich nichts sammeln, nichts auflesen und an mich nehmen. Und ebenso: nun keine Seitenblicke! Einzig geradeaus geschaut, oder hinunter auf die gehenden Füße und den nackten Asphalt, oder, ausnahmsweise, einmal, nicht öfter!, himmelwärts; (erlaubt dagegen das Sehen - das Wahrnehmen, das unwillkürliche - aus den Augenwinkeln). Bei jedem noch so kleinen Verstoß gegen die Regeln hatte ich, in dem Spiel, das sich in einem fort abspielte tief drinnen in mir, um ein Feld zurückzurücken, oder auch so: Zur Strafe wurde mein neues, dämonenfreies Leben um, sagen wir, eine Woche, wenn nicht einen Monat gekürzt. Ein fast ohne mich selbst passierender schneller Seitenblick in einen halbverwachsenen Pfad, der von der Straße weg in die Wildnis führte – früher einmal die große Verlockung –; und wieder ein Teil meiner Lebenszeit verspielt; desgleichen durch den Seitenblick hin zur Grille vor ihrem Erdloch.

Nicht zu solcherart Regeln gehörte dagegen die Namenlosigkeit all dessen, was mir auf meinem Weg durch das andere Land so begegnete. Namenlose Vögel sangen. Namenlose Blumen blühten. Ein namenloser Käfer ließ sich auf meinem Handrücken dahintragen bis in die erste Dämmerung. Und solche Namenlosigkeit war mir eine Erleichterung; war Teil meiner Befreiung; verstärkte gar die Freude, das Leben der Vorjahre losgeworden zu sein, vibrierende namenlose Freude, und das erst hieß Leben; hieß Dasein. Weg mit euch Namen, und genauso weg mit "Holunder", "Islandpony", "Libanonzeder", wie mit "Aronstab", "Paradiesapfel", "Jesusbirne", "Passionsfrucht"! Der einzige Naturdingname, den ich an meinem Tag im anderen Land gelten ließ, war "Brennessel": Aus der Bewußtlosigkeit geweckt, hatte ich, am Seeufer, Ausdruck meiner jähen frischen Daseinsfreude, in so eine hineingegriffen, mit dem Brennschmerz dann taglang als Begleiter.

Peter Handke
Mein Tag im anderen Land
Bibliothek Suhrkamp, 2021,  Seite 58 - 60