Die Obstdiebin
"Es ist ja nichts Neues, daß sich junge Leute das Leben nehmen. Vielleicht war es immer so, daß welche deines und meines Alters, wie meine Mutter das ausgedrückt hat, 'von selber gegangen' sind, und daß auch die Zahl der jungen Selbstmörder im großen und ganzen immer ungefähr gleich hoch war, unabhänging von der Epoche, oder wie das heißt. Was mich beschäftigt, ist, daß diejenigen Jungen, die heutzutage von selber gehen, mit ihrem Freitod etwas ausdrücken zu heutigen Zeit, sie derart bekämpfen, ihr abschwören und sie verfluchen, um sie, die jetzige Zeit, zuletzt doch zu verändern. Und insofern lebt unsereins, kommt mir vor, doch in einer speziellen Epoche? In einem der Länder Europas, welche einmal, lang ist auch das auch schon wieder her, 'die Länder hinter dem Eisernen Vorhang' getauft worden sind, frag mich nicht von wem, hat vor nicht gar langem ein junger Mensch gelebt. Sein Name war Zdeněk Adamec. Nein, nicht Jan Palach. Jan Palach war jene andere junge Mensch, der sich im Jahr neunzehnhundertachtundsechzig, glaube ich, aus Protest gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen zur Beibehaltung des Eisenen Vorhangs in der damaligen Tschechoslowakei auf dem Wenzelsplatz in Prag oder wo in aller Öffentlichkeit das Leben genommen hat. Ob er sich mit Benzin übergossen und angezündet hat, ob er sich wie die chinesischen Jungen auf dem Platz des Himmlischen Friedens oder wo vor einen Panzer geworfen hat, ich weiß es nicht mehr. Zdeněk Adamec ist aus demselben Land, nur verübte er Selbsmord, il a commis suicide, was für ein Wort, nicht wahr, später, Jahrzehnte nach dem Verschwinden, mir nichts, dir nichts, Wegfallen, Sich-in-Luft-Auflösen des Eisendings, ohne Reißgeräusch, weder Knall noch Fall, nichts von Hitchcocks 'Zerrissenem Vorhang', nicht wahr? Aber auch Zdeněks Sterben war gemeint als Protest. Bitte um Nachsicht, wenn ich ihn nur noch bei seinem Vornamen nenne, das widerstrebt mir sonst, vor allem bei Fremden, Menschen, die ich weder kenne noch gekannt habe. Doch bei Zdeněk ist mir, als hätte ich ihn gekannt. Den Zdeněk kenne ich — inwendig! Er heißt bei mir Zdeněk ohne Nachnamen, wie Gaspard allein Gaspard heißt, Blaise Pascal Blaise, Chrétien de Troyes Chrétien, Zinédine Zidane Zinédine, Johnny Cash und Johnny Halliday Johnny Eins und Johnny Zwei, Nicolas Poussin Nicolas, Georges Bernanos Georges, Emmanuel Bove Emmanuel, Rokia Traoré Rokia, und Sie - Verzeihung auch für jedes Du — Alexia. Nie würde ich Obama, Putin, Clinton und wie die heißen — wenn von ihnen die Rede sein müßte — mit Vornamen nennen, würde die überhaupt wegfallen lassen, höchstens Donald Trump dürfte und sollte den seinen weitertragen. Zdeněk hat die Welt verlassen als Protesthandlung gegen nichts Aktuelles, gegen kein gerade vor seinen Augen geschehendes, besonders zum Himmel schreiendes Unrecht, eines Landes, eines Staates gegen ein anderes, einen anderen, eines Gesellschaftssystems, das als das allein selig machende aufmarschiert, gegen ein System oder Unsystem, das zwar ebenfalls selig zu machen verspricht, aber, nach außen hin jedenfalls, in Gestik und Sprache, auftritt auf leisen Sohlen, wie fürsorglich um den kranken Nachbarn bemüht auf Zehenspitzen. Zdeněk hat sich aus der Welt katapultiert, zum zu protestieren gegen die Welt. Gegen die Existenz? Gegen das Unglück des Geborenseins? Gegen das Geworfenseins ins Dasein, ungefragt? Womöglich gar gegen das ganze, jede Antwort verweigernde Universum, das Schweigen der unendlichen Räume? Daß ich nicht lache. Nach dem wenigen, was ich von Zdeněk weiß, hat er am Dasein gehangen, wir nur ein kleines Kind am Dasein hängen kann. Existieren, rein und fraglos zu existieren hat ihm etwas bedeutet, sein Leben lang, war ihm gar alles. Vom Universum, als etwas wohl zu Berechnendem, aber Unerforschlichem, hat er sich keinerlei Antwort für angebliche Existenzfragen erwartet und es schweigend verehrt. Er war, erzählt man, ein Frauenverehrer, ist aber bis zuletzt kaum mit einer Frau allein gesehen worden. Dabei soll er als junger Mann etwas von einem Bräutigam gehabt haben, still und zugleich aufgeregt, wie fiebrig, jedenfalls ständig in Errwartung, bereit, mit oder ohne Blume im Knopfloch. Einmal ist er einem Wildfremden um den Hals gefallen. Ein anderermal hat er einer Platzanweiserin im Theater — er ist fast täglich in Prag, Brünn, Znaim oder sonstwo ins Theater gegangen — die Hand geküßt. Wieder ein andermal soll Zdeněk sich oben auf dem Hradschin, während einer Messe im Veitsdom, auf dem Rückweg von der Kommunion, die Hostie im Mund, den Arm einer Heiligenstatue eingehängt haben. Und auf das Sterbehaus eines Dichters in Brünn soll er, auf die Gedenkplatte dort, in Abwandlung eines Dichterverses gesprayt haben 'Danke für das Salz im Haus!'. Sein Lesen wie seine Theaterbesuche: vor allem Klassisches, nur Bücher, keine Zeitungen, kein Fernsehen. Am liebsten hockte er im Wind an den Waldrändern, im Wind der Welt, wie er ihn getauft hatte; 'der Windhocker', so hieß er bei seinen Freunden, wie das wohl tschechisch heißt? mit war für Lauten? Uninformiert soll er bis an sein Ende geblieben sein, unbeleckt von den Weltnachrichten, blind für die zugehörigen Bilder. 'Weg mit der Information' — womit er auch bei seinen Freunden ins Abseits geriet. Als in ganz Europa auf Mega-Plakatwänden für den Journalistenberuf geworben wurde mit dem Slogan: 'Die Information ist eine Berufung', ist Zdeněk wieder zum Sprayer geworden, einem ganz anderen als vorher in Brno, und als der Papst in Rom, der jetzige oder ein anderer, urbi et orbi verkündetete: 'Gott liebt die Information!' schrieb ihm Zdeněk den ersten Brief aus einer Serie von Postwürfen, die dann auch den anderen Führenden der Welt zugedacht war, alle unbeantwortet, und endete mit seinem Feuertod, begleitet von einem letzten Postwurf, an niemand persönlich mehr adressiert, sondern an die ganze Welt, gezeichnet mit 'Zdeněk Adamec, meiner Mutter Sohn'. Oder bilde ich mir das alles bloß ein? Habe es, heute früh oder wann, geträumt? Tot, so oder so, der Zdeněk, der existiert hat, da war, wie nur ein Zdeněk dasein mußte, nackt wie ein Neugeborener und schutzlos bis in den Tod.—"
Seite 315-319
Später, gegen Mitternach, stand die Obstdiebin noch allein vor dem Festzelt an dem bewußten Ort. (Wo lag oder liegt der übrigens? Name? Der Name, da, tut nichts zur Sache.) Von der fernen Autobahn, oder der Route du Blues, ein leises Rauschen. Auch das gehörte jetzt zu den Geräuschen der Heimlichkeit. Im Nachthimmel über dem Plateau, nah, das Rattern eines Hubschraubers, das sich anhörte wie eine schleudernde Waschmaschine, Scheinwerfer bodenwärts. Ein Suchhubschrauber? Wer wurde da gesucht? Wer wurde da vermißt? Von sehr fern die Schwirrklänge einer sibirischen Maultrommel: eine Ohrentäuschung?
Sie tat die Arme um sich; drückte sich selber an sich. Bei geschlossenen Augen waren die Schriftzüge frisch zurück, helle Handschrift auf schwarzem Grund, Wiederholung der Milchstraße bei offenen Augen. Dann sprangen die Schriftzüge um in Schwarz, während der Grund weiß wurde: viel leerer Platz, in Gestalt von hellen Buchten um die unentzifferbaren Worte. Obwohl im Augenblick ncihts mehr zu wünschen war, zog sie, die Abergläubische, an ihrem gelben Band die Schlaufe langsam auf und wieder zu. Eine abergläubische Handlung im nachhinein? Eine Weise, eine Form der Erkenntlichkeit?
Das Obstdiebestum fehlte ihr, oder das Abzweigen zu den fremden Obstgärten; die Bewergung des Ausscherens; des Ausschwärmens; des Mitgehenlassens. War das denn möglich: ein einzelner Mensch, welcher ausschwärmnte? Es war möglich. Noch als Mutter, auch als Großmutter würde sie von der Obstdiebszeit träumen. Eine Partei gründen? Die Partei der Obstdiebe? Aber gab es die nicht schon?
Seite 558-559
Peter Handke
Die Obstdiebin
Suhrkamp, 2017